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Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens

Der Sommer, in dem alles anders wurde etc. pp. Nach diesem Schema sind viele Coming-of-Age-Geschichten angefertigt. „Das erste Mal“ wird als Initiation, Entdeckung und Erweckung der Sexualität erzählt, die Grenzen zu sentimentalem oder softpornographischem Kitsch sind dabei schnell erreicht. Auch Annie Ernaux' Erinnerung eines Mädchens dreht sich um „das erste Mal“. Aber es ist, als sei über „das erste Mal“ zum ersten Mal aus weiblicher Perspektive geschrieben worden.

Im Jahr 1958 heißt das Mädchen, an das sich Ernaux erinnert, noch Annie Duchesne. Sie ist 18 Jahre alt, eine schlecht frisierte Landpomeranze, die in ihrem Leben noch nie geduscht und weder Proust noch Beauvoir noch Virginia Woolf gelesen hat. Dass Algerien Frankreich gehört, steht für sie außer Frage. Die behütete Tochter verlässt zum ersten Mal das Elternhaus, wo man zwar stolz auf ihre sehr guten Leistungen ist, aber zugleich keine Ahnung von höherer Schulbildung hat.

Kaum hat sie ihren Ferienjob in einem Kinderferienlager angetreten, tritt ein, wonach sich Annie schon lange gesehnt hat: Sie besucht eine „Party“. Der Chefbetreuer H. tanzt mit ihr, küsst sie und führt sie in ihr Zimmer. „Die Fortsetzung läuft ab wie ein Pornofilm, in dem der Mann den Takt vorgibt und seine Partnerin nicht weiß, was sie tun soll, weil sie keine Ahnung hat, was als Nächstes kommt. Er allein ist Herr der Situation. […] Sie unterwirft sich nicht ihm, sondern einem universellen Gesetz, dem Gesetz der wilden Männlichkeit, dem sie früher oder später begegnen musste.“

Ihre erste „Liebesnacht“ triggert eine romantische Reaktion. Sie verliebt sich in H., der nicht nur physisch gewalttätig ist, sondern sie auch noch dem Hohn und Spott der anderen Jugendlichen preis gibt. Sei es trotz oder wegen seiner Brutalität und ihrer Scham, ein ganzes Programm unterwürfiger und würdeloser weiblicher Verhaltensweisen setzt sich in Gang. Annie macht H. zur Sonne in ihrem System, mit Folgen für ihr körperliches und seelisches Gleichgewicht, ihr Essverhalten, ihre Menstruation, ihre Berufswahl, ihre Freundschaften, ihr Selbstgefühl.

Die Scham besteht fort bis in die Gegenwart. Das Buch handelt vom Vorgang des Erinnerns, vom Durchgang durch die Scham. Die Erfahrung des Mädchens von 1958 ist nicht einmalig auf dieser Welt, aber jedes Mal einzigartig. Dem wird Ernaux, kühner, radikaler, würdevoller Essay gerecht und ist deshalb, wie alle große Literatur, befreiend und beglückend.

Weiterführende Lektüre:

Daniel Hell: Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen

Der Psychoanalytiker würdigt die Funktion dieses höchst unangenehmen Gefühls für die Entwicklung des Individuums.

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Kategorie: Romane/Erzählungen

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